Wednesday, August 03, 2005

Wir fliegen über das Tal

Aus dem Russischen übersetzt von Helga Jaspers
Ein schwarzer Punkt: die schwarze Öffnung eines Revolverlaufs. In einer solchen Verkürzung kann auch ein Kenner nicht gleich die Waffenmarke bestimmen. Eine tote Hand hatte den Griff des Revolvers gefasst: eine bemalte, fast lebendige einzelne Hand hielt die Waffe, die durch das Schaufenster auf ihn zielte: wahrscheinlich war der Waffenhändler der Kunst nicht fremd und liebte Gesetze – zumindest die Gesetze des Schönen, das manchmal einen starken Eindruck macht.
Er riss den Blick mühsam los und sah jetzt etwas anderes: das Gesicht des neben ihm stehenden Passanten, vielmehr, der Passantin, dunkel im Glas, als wäre der Tag nicht sonnig, und durchsichtig – und durch das Gesicht sah er die blaue Unterlage auf den Regalen des Schaufensters – und die im voraus blutüberströmten Innenseiten der Schachteln, aus denen die Waffen hervorschauten: fähig, den Lauf eines Menschen, einen Sprung aufzuhalten, einen Spaziergang, einsames Nachdenken und erst recht einen Flug zu unterbrechen.
Er sah ein Lächeln. Sein Spiegelbild lächelte ihrem Spiegelbild als Antwort zu. Sie drehten sich nicht zu einander um, offenbar so bemüht, die Anstößigkeit einer Straßenbekanntschaft, die durch nichts gerechtfertigt ist, zu vermeiden, – gerechtfertigt, nun, wenigstens durch den Zufall einer absichtlich wiederholten Begegnung oder durch den Dienst irgendeiner öffentlichen Institution, wo natürlich jeder vorbei kommen könnte, oder sagen wir: sie wäre im Aufzug steckengeblieben und er hätte sie daraus befreit.
„Was gefällt dir?“
„Mir? Wie? Nun, das kleine Samtkissen da!“ (Auf ihm ruhte ein vortrefflicher langläufiger Colt.) – „Samt? Das ist doch Papier!“ – Er verspürte Ärger, als wäre ein prosaisches Detail in der Wirklichkeit hinzugekommen, und besteht sie denn nicht aus Details? Und wurden sich alle Details plötzlich – wegen seiner Unbedachtheit – als aus Papier erweisen, wie würde die Wirklichkeit selbst werden? Es wäre leicht, ein Streichholz hinzuhalten und zu sehen, wie der Blattrand verkohlt und sich zu einem stickigen Röhrchen aufrollt, und damit wenn auch nicht alles, so zumindest – Mitte, Ende, oder wie jetzt den Anfang zu Vernichten. Aber trotzdem gibt es in der Wirklichkeit irgend etwas, – es gibt Feuer, zum Beispiel, oder Wasser.

Nachdem er das Wasser getrunken hatte, behielt er das Glas noch in der Hand. Es ist so leicht, die Fragmente des eigenen Lebens durchzugehen, ohne sich übrigens anzuschicken, allen zu gewähren, sie zu betrachten, und manchmal aus ihnen ein nie gewesenes Bild zu ersinnen. Es war vorgekommen: die letzte Hügelkette zu überqueren, die mit Weinbergen und Reben beladen war – und die Trauben waren staubig, manche mit einem Krustchen an der Seite und sogar aufgeplatzt (und wie die Wespen über ihnen kreisten) und zu sehen: einen öden Strand, niemand, niemand, nur da drüben ein schwarzer Punkt, wahrscheinlich ein Hund, denn er bewegt sich schnell, und der hier starke Wind trägt ihn fort der anrollen Welle entgegen, und er folgt dem schwarzen Punkt, der sich im Zickzack bewegt.
Oder: kaum aus der Wasser gestiegen, spürt er schon Wärme unter den Füssen, bald wird der Sand beginnen, zu brennen – bei dem 21 Schritt, nach einer Berechnung aus der Zeit, als er sich für die Wissenschaft begeisterte. Aber die Handfläche ist noch kalt: er berührt die heiße Haut der Schulter, und folgt ihm Rückenschauer bis zur Hüfte, umfasst diese und verschwindet.
Oder: kann denn ein lebender Sterblicher dem Tag ausweichen wo er sieht: ein Gesicht, absolut unbeweglich, es kann sich nicht nähern, und diese Lippen können weder ein Wort noch selbst den Namen dessen aussprechen, den er geliebt hatte. Was ist das? – Schrecken oder Mitleid oder Trennung? – Noch nicht, der Körper liegt ja ganz nah, noch schluchzt man oder weint einfach lautlos, und dann – vor der Trennung – o, die Hoffnung auf eine Begegnung in einer anderen Welt: haben denn meine Handflächen genug deine Haare, Wangen, Hals, Schultern, Hüften und sogar... sogar Zehen berührt, und haben denn meine Lippen den langen nächtlichen Weg der Handflächen wiederholt, und ist der Honig des Kusses schon ganz geschmolzen? Aber es kommt eine andere Dämmerung: Blumen zu Häupten, deren Duft sich vermischt mit einem anderen gefährlichen, schrecklichen Duft, nicht mehr leicht, sondern schwer, der die Luft verdrängt.
Und daraus ein Bild zusammensetzen? Ein öder Strand, er und sie, und der Tod, der den Untergang der Sonne erwartet. Und wenn man die Fragmente zusammenfügt – sie verschmelzen ineinander – wie soll ein solches Bild nicht Wirklichkeit werden? Bleiben wird ein Tischchen in einem Café, in einer kaum beleuchteten Ecke, und ein Glas vielleicht mit Bier und der mächtige Hals des Wirts: er sieht in mir ein Detail des Dekors. Er ist Russe, sagt er zu einem Kunden. Auch die andern drehen sich um und gucken: in der Luft schweben Fetzen eines zerrissenen Blatts zusammen mit dem nicht erfolgten Tod.
Ihre Köpfe nicken: der mächtige purpurrote Hals, die dünnen anderen Hälse: so, so... so sind sie also, die Russen, so, so sind sie.
Langsam legen sich die Fetzen Papier auf den Boden, fügen sich zusammen: ein geschwungener Strand, Hügel, Wellen. Sie gehen langsam am Wasser entlang und wenn der Strand nicht aufhört, wenn es gelingt, ihn auszubauen – fieberhaft, ohne auf die Worte und erst recht Gesten achtzugeben – werden sie weitergehen, plaudernd oder einfach einander die Hände berührend, und er wird das lebendige Meergrün ihrer Augen sehen und niemals den kalten Abglanz medizinischer Helle und gegen ihn gleichgültige Pupillen.
„Das ist zuviel! Zuviel!“ schreit der Kopf auf dem mächtigen Hals: die Garçons zäubern den Kunden, unter der Füssen knirschen die Scherben eines Bierglases. Natürlich hindert man mich daran, den Strand fortzusetzen.
Die beiden aber sind sorglos dort, sie schreiten leicht über den sandigen Strand.
„Zuviel! Grüß dich! Wie geht’s!“, schreit der Papagei, ein anderes Detail des Dekors. (Die Fetzen Papier fallen einer nach dem anderen, zusammen mit dem Papagei, den Kunden, dem Tod: wenn auch nicht gleich, sie schweben in der Luft.) Süße kalte Luft der Nacht.

Am Abend zuvor: eine Schicht Lippenstift auf ihren Lippen. Sie hatte sich zu sehr dem Spiegel genähert: in dem Nebel, der augenblicklich das Gesicht verbarg, hätte sie nur einen kleinen roten Ring unterschieden, einen Kreis, fast einen Punkt, fast eine längliche Schramme. Er – lockig... – Moment, ich kann nicht ganz deutlich sehen... – jetzt ist es besser: lockig, dunkelhaarig, träge – erhob sich nicht vom Bett. Er spürte ein Brennen in der Brust, das von der Hautoberflächige ausging wie von einem Stich.
„Es brennt“, sagte er.
„Wie, bitte?“
„Es brennt, hier“.
Sie wandte sich vom Spiegel um, so dass ihre offene Bluse über ihre Schultern aufflog und im Halblicht der geschlossenen Läden schwarz erschien. Es brannte unter seinen linker Brustwarze, und ihr schien, dort wäre etwas, aber dann wurde sie ruhig: „Alles normal“. Scheint’s hatte sie gerade dorthin gestern, als sie sich über ihn beugte (sie versuchte, zum Käse zu langen), die heiße Asche einer Zigarette fallen lassen. Es brennt – nun wirklich, seltsam, nicht wahr? Aber das wird vergehen, es macht nichts. Sie küsste die Stelle und sah einen Abdruck: fast ein Kreis, wie ein Ring. Da war wegen der allzu dicken Schicht Lippenstift auf ihren Lippen eine Spur auf seiner Brust erschienen, unter der linken Warze, vielmehr etwas niedriger, aber nicht höher – eins, zwei... als die fünfte Rippe, natürlich von unten gezählt. Er zog sich ungern an, hörte gereizt die Sportmeldungen an und aus irgend einem Grund auch noch die andern: die Benzinpreise waren plötzlich gestiegen, und erst der Kaffee – besser, es nicht zu wissen. Die Russen wollten wie immer einen beständigen Frieden, darauf bestanden die Experten, und waren jedenfalls einstweilen weit weg.
„Wir fahren zu den Jungs“, sagte er. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel.
Der Wagen sprang lange nicht an.
(Das ist nicht wahr: sie steigen in den Wagen, und die Tür hätte fast das Kleid eingeklemmt, aber nein, es ging gut. Der Motor sprang im Nu an.)

Bekannt sind die Elemente: Feuer, Luft, Wasser, Erde. In reiner Form sind sie selten zugegen, nur unter der Bedingung, dass Tod und Liebe stattfinden, die selbst auch Elemente sind, aber ohne unsere Gegenwart höchstens für die Philosophen interessant. Das Leben ist eine Mischung der Elemente aber das Dominieren des einen gebiert Grosses. Zum Beispiel ein Brand: Dominieren des Feuers. Das Meer: Wasser. Ein hoher Hügel, auf dem zwei Gestalten sichtbar sind, ein Mann und eine Frau, die sich wahrscheinlich umarmen, – auf dem hohen Hügel herrscht die Luft, alias der Wind wenn sie sich bewegt und haucht die Blusenärmel der jungen Frau. Natürlich ist Erde unter den Füssen – wenigstens bei ihnen.
Beobachten wir wohlproportioniertes Leben: auf dem Feuer brät ein leckeres Gericht, kräftige Hände waschen den mächtigen Hals unter einem Wasser-Strahl. Der Ventilator dreht sich. Entsprechend sind Liebe und Tod: eine energische Frau schaut ärgerlich auf dem Rücken des Mannes, dann steht sie ungeduldig zum telefonieren an. Herein kommt der Kater: mit einer Maus in den Zähnen – wahrscheinlich mit einer Gummi-, Puppenmaus. Hier kann es natürlich den Tod nicht geben: dieses Volk ist unsterblich.
Es gibt ein Element, das nicht erwähnt wurde, und das ist ungerecht: es vermischt die übrigen, tauscht ihre Plätze, es ist der Wahnsinn. Er kennt die Liebe nicht, verbirgt sie, lässt im Kuss ein Werkzeug des Todes sehen und verwandelt eine beliebige Geste in Gefahr. Dieses Element ist stark, ich denke, während ich auf steinigem Pfad den Hügel hinabsteige: ein öder Strand, Menschenleere, und von dem öden Meer zieht sich am Fuß der Kiefern ein Weg zwischen den Hügeln hin zu dem öden Städtchen. Steile, kopfsteingepflasterte Strassen, die staubigen Scheiben eines Cafés, eine halbgeöffnete Tür. Und das wie soeben gewaschene Schaufenster eines Waffenladens. Im Glas spiegelt sich der Kragen einer offenen Bluse.
„Dir gefällt?“
„Was?“
„Guck mal, wie schön dieser Dolch ist: spanisch!“
Das Messer ruhte auf Samtpapier etwas seitlich, nicht allzu breit, aber mit einem kostbaren Griff, und es war deutlich sichtbar eine ganz schmale Rille auf der dicken Seite der Klinge. Kindheitsfreunde haben mir erklärt, dass die Rille zum Abfluss des Blutes da sei. Und ich glaubte lange daran, bis die Jugendfreunde über mich lachten: das ist die Versteifungsrippe, sagten sie, damit sich das Messer, selbst wenn es den Knochen trifft, nicht biegt, sondern seine Sache tut.
Die halbgeöffnete Tür des Cafés: ein Lied dringt her.
„Ach, kennst du dieses Lied? Nein? Warum? Ich – liebe es“.
Er hört sich hinein: „Wir fliegen über das Tal... wo wir geboren sind, am Ufer des Flusses gingen, liebten und starben... verweile, flieg nicht so schnell darüber...“
„Du hast einen seltsamen Akzent. Bist du vom Süden?“
Vom Süden? Wahrscheinlich vom Norden.
„Vom Norden“.
„Aber du bist im Süden geboren?“
Wo bin ich geboren? Muss ich mich daran erinnern? Genügt es nicht, überhaupt auf der Erde geboren zu sein, irgendwo zum ersten Mal zu schreien. (Vor Angst natürlich, wenn man all dieser kleinen gelben Kreise in der dunkeln, sich bewegenden Masse erblickt – das ist die Sonne, die die Baumkronen unter dem Fenster durchdringt.)
„Du weißt... siehst du... du verstehst, ich... also: ich war taubstumm. Hab’ sozusagen mit dreißig Jahren zu sprechen begonnen, daher wahrscheinlich...“
„Aber du bist viel junger als dreißig! Ich hätte nie gedacht, das du dreißig bist“.
Er hatte schon die Absicht, das „taubstumm“ Thema zu entwickeln.
„Unglaublich! Ich dachte, du seiest – nun, wie viel – fünfundzwanzig!“
An den Hügeln, den Weinbergen vorbei – öd und gelb auf der roten Erde, über den steinigen weißlichen Weg steigen sie zum Kamm hinauf – und schon sind nur noch die Silhouetten sichtbar: als stiegen sie zum Himmel, zu dem Wölkchen mit rosigen Rändern. Die blauen Keile des Abendschattens schneiden die Hügel, das Grün wird dunkel. Ihnen öffnen sich Meer und Inseln: fern, kaum aus dem Nebel heraustretend, der die Gegend überschwemmt hat. Nicht mal ein Vogel ist zu hören. Und nur der Wind trägt plötzlich das Rauschen der Wellen her: weiße straffe Bögen bewegen sich zum Ufer. Und nur ein schwarzer Punkt wechselt von Stelle zu Stelle; wahrscheinlich ein Hund, vom Wind fortgeblasen, – er läuft im Zickzack.
Mit jedem Schritt ist das Meer deutlicher zu hören, schon das Tosen der Wogen, die gegen die Mole schlagen. Nacht. Nebel. Mond. Scharfe und lautlose Flammen des Leuchtturms. Die Ruinen eines Sommerhäuschens, wahrscheinlich Kiosks, eines Zeitungskiosks oder auch eines anderen, ja, natürlich, hier hat man Eis und Erfrischungsgetränke verkauft: ja natürlich, das war’s; da hebt sich auch ein Kopf auf mächtigem Hals von der Chaiselongue, daneben, gleichfalls auf der Chaiselongue, eine Frau, die ihre Anziehungskraft noch nicht völlig eingebüsst hat. Sommerliche Körper unter Schutzdächern, Radio, Musik, Obst, und der mächtige Hals trägt einen kräftigen Kopf, vom Körper hängen Falten – als ein gewisses Merkmal der Wohlhabenheit, Rüstung des Reichtums. Er kauft Eis, ein Päckchen Nüsse – Mandelnüsse, und dann auch noch Erdnüsse, eine Dose Coca-Cola, sechs Dosen Bier. Er denkt etwas nach und nimmt auch ein Sandwich – mit Schinken, und ein Sandwich mit Pastete, ein Schächtelchen mit Fleischsalat und Schokolade. Kräftige Finger machen den Geldbeutel auf, holen einen Hundertfrankenschein heraus (mit dem Portrait von Corneille), finden dann aber etwas Kleineres: fünfzig Franken (mit Voltaire: o Philosoph von Ferney, ist deine Weisheit wirklich genau halb so teuer als Literatur?). Die Frau schläft scheinbar, das Gesicht mit einer Zeitschrift bedeckt, auf dem Umschlag marschierende Russen; sie sieht neben ihr stehengebliebene behaarte Waden, ihr Blick steigt – bis zum Hängebauch: sie stellt sich schlafend. Doch am Horizont wächst ein Berg von smaragdblauem Wasser: die Liegenden können den Himmel bereits nicht mehr sehen. Die Welle stürzt auf den Sand und spült die Körper, den Abfall, fort, – die Bretterwände der Bude fallen mit einem Krach auseinander, die Bruchstellen der Bretter sträuben sich, – und trägt im Zurückrollen den Schwarm weißer Sandwichs mit sich.
Sandverwehte Ruinen. Nacht. Nebel. Mond. Lippen flüstern einen Namen. Eine heiße Handfläche berührt Wangen und Haar: ein Gesicht, heller als die umgebende Nacht, er sieht bebende Lider, plötzlich entblößte Augen: sie wird den Mond sehen, vielmehr einen hellen Fleck im Nebel, – sieht sie ihn? Sie sieht sein Gesicht.

Nacht. Nebel. Mond. Bauten entlang der Eisenbahn, die jedoch genügend Platz für Ödland gelassen haben: Ödland. Die Silhouette eines Mannes neben einem Wagen, das Licht einer Zigarette. Die Drähte hängen wie Notenlinien: kaum ist die Musik zu hören. Wenn man das Gehör anspannt: rhythmisches Knirschen des Kieses unter den Füssen eines Menschen, der geht, sogar mehrerer, und wenn es drei sind, die durch einen einzigen Gedanken vereint sind, dann – sind die Schritte die Bewegung eines Sechsfüßlers. Er bewegt sich zwischen den Kieshaufen, der einzelne beim Wagen spürt die angespannte Erwartung, löst sich vom ihm und ist jetzt kaum bemerkbar: der schwarze Fleck hat sich vom hellen Fleck des Wagens fortbewegt und aufgelöst. Sie waren unweit im Halbkreis stehensgeblieben, aber das Knirschen des Kieses hatte nicht aufgehört: seitlich um sie herumgehend, näherte sich ihm ein Vierter, Unbekannter, wenn er auch durch die Kontur des Kopfes an einen Bekannten erinnerte, den er in dieser Nacht zu treffen erwartete.
Er spürte gleichsam einen Stich in der Brust, ein Brennen, das plötzlich da war: das an der Oberfläche begonnen hatte und jetzt in die Tiefe drang. Gestern Abend hatte sie die heiße Asche der Zigarette verstreut, als sie, auf seinen Leib gestützt, etwas Wein aus dem Glas trank: Musik, Wärme, Alkohol. Die Musik einer alten Schallplatte mit dem Kratzen dem Nadel, die Asche, die sich plötzlich losgelöst hatte: fällt, fällt, brennt: die Stelle ist gezeichnet, und es ist würde die Verbrennung immer stärker – mit jedem Schritt des sich nähernden, sogar allem Anschein nach leicht schwankenden Menschen: die Verbrennung, die an einem Punkt auf der Haut begonnen hatte und in die Tiefe drang; deshalb spürte er den Stoss nicht: als hätte etwas die Rippe gestreift, wäre um den Knochen gebogen und eingedrungen. Nur etwas Heißes: es strömte unter der Kleidung über den Leib, hinab, in die Leiste und tiefer, zerfloss über die nackten Beine, über die Füße, die gleich erstarrten, und die Zehen, verdickte sich zwischen ihnen und tränkte das Leder der Schuhe und den Kies und die Erde unter ihm.
Nacht. Mit ausgebreiteten Armen, ein regloser Man. Der abgerissene Halbgürtel eines Regenmantels. Lichtflecken, geworfen von einer Laterne, ein riesiger Knopf wirft das Licht zurück.
Zu spät, das beschriebene Papier zu zerreißen.

„Ich möchte dir etwas sagen. Aber du, lach’ nicht, ja?“
Was nur, dachte er. Das Strandcafé war menschenleer. Der Wirt hinter der Theke – hager, mit schnellen Augen, die alles gleich sahen: unter der Jacke der Frau schaut eine Bluse hervor, aller Wahrscheinlichkeit nach violett. Ein Mann in einer Dienstmütze, der in einem klapprigen Wagen vorgefahren war, trägt ein Packet herein: Zeitungen.
Was will sie nur sagen, will sie es überhaupt? – Er trinkt ein wenig Kaffee und spürt die Wärme, die im Innern seines Körpers hinunterstützte. Wird sie sagen vielleicht, dass sie verheiratet sei und wie leid ihr das tue. Dass ihr noch ein, nun, zwei, drei Tage zum Aufenthalt hier blieben. Vier vielleicht. Nein, kaum vier, zwei Tage höchstens.
„Aber du wirst nicht... siehst du... lachen, nicht war?“
Wie schnell bei mir ein solcher Ruf entsteht! Dachte er. An allen Ecken und Enden, nicht ohne Grund natürlich, aber doch irgendwie schon zu viel. Sie beugt sich zu ihm, hält das Haar zurück, aber es fällt doch und verdeckt ihr Gesicht, und er hört so eben: „Glücklich... mit dir...“ Er streicht das Haar zur Seite und begegnet dem Blick: darin ist die Erklärung, weshalb, und er liest bereits wie ein Tauber dieselben Worte – auf den sich kaum bewegenden Lippen. Die rosigen Wangen sind schräg von der Sonne beleuchtet: Wärme breitet sich in der Luft aus, und die Sonne wirft ihre Strahlen weiter und höher: die Regale mit hundert Flaschen flammen auf wie der Kragen des Nordlichts, grün und blau, rubinrot, rot, blutrot, – die blutrote Farbe gibt es auf den Regalen am meisten. Das Gesicht des Wirts im Sonnenlicht: gelb. Er blinzelt, auf dem Gesicht erstarrt die Grimasse der Unzufriedenheit für den ganzen Tag.
Er merkt, dass der Gesprächspartner der jungen Frau erregt ist (ist er froh, oder ganz im Gegenteil?). Stirn, Wangen, Nase sind gerötet: er öffnet ihre Hand und legt sie an sein Gesicht: Gerüche von Uferweide, bitterer Rinde, feuchtem Gras – woher nur? – Er atmet die Frische der kühlen Handfläche ein, und sein Gehör erfüllen Laute der Muttersprache, er sagt sogar etwas und begreift erst dann, dass er sich unglücklich ausgedrückt hat, sich in einem Abrakadabra erklärt, – vielleicht weitverzweigt, kraus, angenehm für das Ohr – aus einem fernen Winkel der Erde, so sich die Menschen mit ganz anderem beschäftigen, bestimmt anderem, genauer: dort wo sie die Wissenschaft des Todes, des Wahnsinns studieren, wo morgens und abends der Kies knirscht unter Sechsfüßlern, Achtfüßlern, Hundertfüßlern. Wo immer Nacht ist.
Das Haar bedeckt sein Gesicht: „...mit dir... ich bin so... ich weiß nicht... du verstehst...“ Die Jacke glitt von ihrer Schulter, und er sah ihre Zeichnung im Nebel der sonnedurchtränkten Bluse. Auch das Gesicht sah er im Nebel sowie die weißen Stühle der Terrasse mit den Tautropfen. Sich bezwingend, wandte er sich an der Wirt wegen einer Zeitung und schlug sie absichtlich langsam auf. „Der Morgen“. Groß: „Die Russen in Afrika“, eine Photographie, die Unterschrift: „Russen marschieren noch weiter“. Kleiner: „Rechnungsabschluss“. „...in der Gegend der Uferstrasse Debussy... die Personalien sind nicht festgestellt... die Untersuchung hat ergeben... Lippenstift... Nach Meinung der Polizei haben Rauschgifthändler...“
Das Zeitungsblatt bog sich um. Sie rauchte noch eine Zigarette und schaute die Photographie des Ermordeten zerstreut an. Dann sah er: Interesse und Aufmerksamkeit und den Ausdruck von Schmerz, der das Gesicht plötzlich ergriffen hatte.

„Grüß dich! Zuviel! Wie geht’s!“ schreit der Papagei, und flötet dann vor Erstaunen. Das ist natürlich nicht alles, was der Wirt ausspricht, beinahe, aber nicht alles. Der Papagei ist frei: der Wirt hat sich zur Bank begeben, und die noch hübsche, anziehende Wirtin spricht ins Telefon, lächelt unbestimmt, als höre sie etwas Angenehmes und als könne der Gesprächspartner sie sehen. Sie spricht zweifellos mit einem Mann, während sie mit den aus dem Untersatz gezogenen Pfeffer-, Senf- und Salzdöschen spielt: sie bildet ein Dreieck aus diesen kräftigen Zutaten: Pfeffer, Senf, Salz. Sie schiebt das unsaubere, bauchige Senfdöschen zerstreut beiseite – so weit, dass es fast über die Theke fällt. Es bleiben Pfeffer und Salz: gepflegte Fingerchen stellen das eine und andere um, als führten sie einen seltsamen Tanz aus, der gleichsam etwas vorbereitet, und pressen plötzlich den Hals des Gefäßes mit dem Pfeffer zu: die Gelenke erbleichen. „Zuviel! Grüß dich! Wie geht’s!“, schreit der Papagei: der Wirt ist nicht da, er ist auf der Bank. Es gibt wenig Besucher, die Kunst des Papageis zu sprechen ist außer Konkurrenz.
Doch diesem ein klein wenig schmuddligen Café in der Hauptstadt möchte ich das Café in der fernen Provinz vorziehen: vom Hügel herab auf steinigem Weg, an bis zum Sommer verschlossenen Häusern vorbei, an Bäumen vorbei, die weiter und weiter vom Meer zurückweichen, geht ein Mann über den öden Strand. Ein grauer Tag, Wind, Regen. Weißgewaschene Stücke Holz, schwer, kahl, wie die Knochen mancher Tiere. Voran läuft im Zickzack ein Hund, vom Wind fortgetragen, die Spuren seiner Pfoten zeigen schon ausgespülte, halbverwischte Ränder.

„Guten Tag“, sagen wir beinah gleichzeitig, ich und der Wirt. Er macht mir eilig Kaffee: er liest den neuesten „Morgen“. Ich schlage ein Blatt auf. Ihr Gesicht, das gestern morgen, und vorgestern abend, und in der Nacht ganz nah war, ist jetzt ein anderes Gesicht: Trauer, Stille, Ruhe, wie bei einem, der bis ans Ziel gelaufen ist und dann ausruhte. „Gestern abend... erschien... kennt die Person... auf der Uferstrasse Du(ein Druckfehler)bessii. 19 Jahre, aus einer Ingenieurfamilie.“
Ein durchdringender Blick: der hagere Wirt studiert das Gesicht des gestrigen Besuchers, ganz aufgerichtet, angespannt und bereit, und begegnet ihm mit den Augen: über den dichten Brauen springen Schweißtropfen hervor wie aus einer Pipette unter der Haut, der Wirt schwitzt, auf seinen blau gewordenen Lippen stocken die Worte: „Sie waren gestern... und sie...“
Es sagen: nein. Er wird bis zuletzt, überall, immer leugnen: die Nacht und den Mond und die Lippen, die seinen Namen flüstern, das schwere Rauschen der Wellen in der Ferne und die Erde, die von den Schlägen des Wassers erschaudert.
„Ja“. – Auf dem Weg zum Gipfel des Hügels, der mit krummen Bäumen, Strauchwerk und Beeren von der Farbe verbackenen Bluts überwachsen war.
Im Hinausgehen hört er bereit das Schnurren der Telefonscheibe und läuft dann durch die Ufervegetation, einen ganz unlogischen Weg wählend: er wird unter dem Regen ausrutschen. Teile der nassen Kleidung sind von Dampf eingehüllt, er ist außer Atem. Auf der Steigung der Chaussee holt ihn ein Wagen ein: wie kann man bis Toulon fahren? „Ich komme mit Ihnen, ich muss auch dorthin, ich werde es Ihnen zeigen“.
Er sieht ein Gesicht im Wagenspiegel: verklebtes Haar, einen Mund außer Atem, ist er auch das? Ja.

Eine doppelte Reihe trüber, dunkler Wände, in der Mitte ein schmaler Durchgang, zur Hälfte von einem breiten Rücken gefüllt. Ihr Gesicht ist weit weg, im Abstand von zwei oder drei Schritten, und die Stimme nicht erkennbar: eine entstellte Telefonstimme, von einem feinen Metallnetz bedeckt. Sie küsst ihn – er sieht die Lippen, die sich etwas öffnen, die geschlossenen Lider. Er schaut, mit den Händen auf das Glas gestützt, das mit nichts zu durchdringen ist, auch nicht mit einer schweren Kugel. Mein Liebster, hört er, mein Liebster, küss’ mich, komm näher, rühr’ mich an, berühr’... Er küsst, als gäbe es keine durchsichtige Wand mit dem schwarzen Punkt einer anklebenden toten Mücke, er hört: ich weiß nicht, weshalb, warum... sag mir: wir sind doch zusammen geblieben, nicht war, erinnere dich nur...
„Sieh: schwarze Felsen, und das Meer unter ihnen, und die Wellen verlieren am Ufer ihre Kraft und Form. Die Musik des Schilfs, das sich wellenförmig unterm Winde biegt, und der Wind füllt deine Bluse, – ich sehe das Dreieck sonnenverbrannter Haut, glänzend und glatt. Sand rieselt um die Füße, die fahle Sonne sinkt immer tiefer, Wolken stehen im Halbkreis, die Umrisse des Ufers wiederholend. Weiter entfernt schneiden sich dunkelgrüne Hügel in den blauen Himmel ein. Auf dem weißen steinigen Weg die Silhouetten der Gehenden, und ganz hoch oben verschmelzen sie, und selbst wenn man ihnen nacheilen würde, so würde man sie nicht erreichen: Nacht fällt auf die Hügel, bedeckt sie mit Schatten, und nur der Mond leuchtet hell auf den weißen Weg, der wie Kreide anfing zu fließen, wie der ins Gras geworfene Gürtel, wie ausgebreitete Arme – im dichten grünen Gras.
Der Mond scheint durch Fenster: auf dem Tisch der Glanz eines goldenen Ohrrings, langgezogen wie ein Wassertropfen, der im Raume fliegt. Und der Glanz des Goldes wird wiederholt durch das Glänzen der Haut und des Weges, den die nasse Handfläche zurückließ, die um die Hüfte bog und erbebte, und das rasche Klopfen des Bluts in den geschwollenen Venen, und der Atem, der ihr Gesicht verbrannte, als wäre die Luft entflammt: als hätte ihr Atem das Zimmer, die Hügel, und das Tal erfüllt. – Mein... Lieb...ster... – hört er: er sieht nicht das Gesicht, das vom Oval der schwitzenden Scheibe verborgen ist, doch er sieht den wie aus der Tiefe aufgestiegenen Ausdruck beinah von Schmerz.
Der Polizist beugt sich zu seinem Ohr.
„Macht Schluss!“ sagt er. Die Flut der Tapferkeit verlässt ihn.
„Das Wiedersehen ist beendet“.
Zwei weiße Flecken: ihre Handflächen, an die durchsichtige Wand gegenüber gepresst, die von seiner Wand durch die Korridor getrennt ist. Der breite Rücken zerreist ihren Blick, die gut geschnittene blaue Uniform, die Muskelschichten, aber er hört noch: mein Liebster.
„Erlauben Sie mir, die Hoffnung auszudrücken, dass sich Ihr Einfluss als wohltuend erweisen wird“, sagt zu ihm jemand in gut geschnittener Zivilkleidung.

Ein sonnige Tag. Er kauft zerstreut eine Zeitung, schlägt sie auf. Der schwarze Fleck einer Überschrift: DEBUSSY. Ach nein, es macht nichts, macht nichts, irgendein Konzert, es macht nicht, das wird vergehen, das kommt vor und geht dann vorüber, die Hauptsache ist, die Augen zu schließen und nicht zu sehen, nicht zu hören, abzuwarten.
Es ist ganz unwichtig – warum? – wer – wer? – schuldig ist, sie oder andere, aber er hatte vergessen, ihr zu sagen, hatte nur daran gedacht: ich werde immer auf deine Seite sein, zusammen mit den Hügeln, zusammen mit der Wärme, die von irgendeinen unbekannten Gegend der Welt kam, mit diesem Tropfen Gold – er öffnet die Hand: eine wie im Fallen aufgefangene längliche Form, die mit der scharfen Spitze die Haut durchschnitten hatte: ein golden Ohrring, gedunkelt im Blut.
Er bemerkt einen andern Zeitungsleser fast an den Kiosk gelehnt, gegenüber dem Eingang zum Bahnhof. Ein heller Regenmantel, gegürtet mit einem Riemchen. Ein vergessenes Gefühl der verfolgende Tiere steigt langsam in ihm auf. Die Muskeln füllen sich mit Kraft. Mit leichtem Schritt zieht er einen Kreis der beginnenden Jagd.
Der ferne Winkel der Bahnhofstoilette. Auch der Zeitungsleser hat plötzlich, zum Teufel, ein Bedürfnis verspürt, bleibt aber doch auf halbem Weg stehen. Er aber verbirgt sich hinter dem Toilettenhäuschen, als habe er die Absicht, hineinzugehen, handelt aber anders: die verzierte Betonwand ist ja nicht viel höher als er.

Strasse. Abend. Allein.

Der Käfig mit dem Papagei ist mit einem Stück schwarzen Stoffes bedeckt: es ist Zeit, mein Freund, du hast an diesem langen Tag genug erzählt, für dich ist schon Nacht, wie übrigens auch für uns: die Zeit späten Alkohols, nicht zustandesgekommener Begegnung, träger Einbildungskraft. Ein mächtiger Hals über der Kasse: der Wirt ist zerstreut, er sieht wie ein Buddha aus. Dort und weiter über den Tischen – beendete Gespräche. Eine erloschene Zigarre in den Zähnen eines Besuchers, der sich ziemlich malerisch an der Theke niedergelassen hat. In der Nische unter dem Bogen mit der Aufschrift „Restaurant“ ist das Lämmchen erstarrt, mit glänzenden Augen, wie lebendig, nur eben unbeweglich, ausgestopft oder noch schlimmer – aus Wachs. Im Spiegel blüht über die ganze Wand hin ein riesiger Blumenstrauß, blüht ein Jahr und zwei und drei und mehr: die gemalten künstlichen Blumen sind matt geworden.
Der Lärm der Strasse ist für einen Augenblick deutlicher zu hören: die Tür hat sich wohl geöffnet, anscheinend ist jemand hereingekommen. Eine Frauenstimme fragt nach Limonade. Schweigen. Die Frauenstimme fragt nochmals nach Limonade. Der Knall eines Pfropfens. Das Rollen von Münzen. Das Knacken der eingeschalteten Musikbox. Der Stahlhebel bewegt sich die Reihe schwarzer Platten entlang. Langsam beginnt sich die Nadel zu nähern, immer näher kommt der Rand der schwarzen, glänzenden Platte, immer näher – ich ergebe sogar, ich... sogar... inmitten der künstlichen Blumen sehe ich einen schwarzhaarigen Kopf.
„Wir fliegen über das Tal... wir fliegen über das Tal... Wir fliegen...“


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Ich danke herzlich Martina Wachendorff und Stefan L. Wieszner, die alten Residenten der Villa Marguerite Yourcenar in Flandern, die so freundlich waren diese Übersetzung zu lesen und ihre Bemerkungen zu geben.
Das Russische Original in: „Kovtcheg“ (Die Arche). N°5, Paris, 1980
http://MemoRusse.blogspot.com